NIEMALSALLEIN

Die meisten waren schon oft hier. Ein vertrauter Ort ist ihnen diese Nordkurve. Sonst stehen sie hier mit Kutten und Fahnen, die AWD-Arena ist hier besonders laut und bunt.

 

Doch an diesem Volkstrauertag ist alles anders. Ein Stadion ohne Stadionatmosphäre. "Ich trage schwarz, weil ich Robert Enke die letzte Ehre erweisen will", sagt ein Fan feierlicher und förmlicher, als man das so einem jungen Mann zutraut.

Schon Stunden vor Beginn der Trauerfeier sitzen sie hier. Kaum Kutten, kaum rote Trikots. Gedeckte Farben. Erwachsene Männer, kräftige Kerle, reden leise darüber, wo sie waren, als sie die Todesnachricht bekamen. Manche versichern einander schnell, dass Enke doch ihre Nummer eins geblieben wäre, auch wenn er seine Krankheit offenbart hätte – und fragen sich gleichzeitig, ob das auch wirklich stimmt. Man redet über Angst, Krankheit, Schwäche. Der Tod ist zu öffentlich, zu präsent, um das nicht zu tun. Der Sarg steht im Wortsinne im Mittelpunkt, unten auf dem Platz.

"Das ich heute hier bin, das bin ich ihm schuldig", sagt eine Dauerkartenbesitzerin. "Ich bin selber nicht gesund. Auch ich weiß, wie oft man nicht man selbst sein darf." Im Leben verkörperte Robert Enke die Träume vieler Fans – und im Sterben ihre Ängste: Viele in der Nordkurve erinnert sein Tod an die Abgründe der eigenen Seele, an den Wunsch, offen zu Schwächen stehen zu dürfen. Der gnadenlose Leistungswahn ist ein Götze, der Menschenopfer fordert, und es gibt ihn nicht nur auf dem Fußballplatz.

Die Morgensonne fällt über den Stadion­rand auf den Sarg, als Teresa Enke zum Mittelkreis geführt wird. Zehntausende stehen auf und applaudieren der Witwe verhalten. Väter mit ihren Kindern, Teenager mit verweinten Gesichtern erweisen ihr Respekt.

Emotionen gibt es in der Nordkurve bei jedem Heimspiel. Sie sind Teil der Show, produziert von Spielern, die man eben dafür bezahlt. Eine Gefühlsfabrik ist so ein Stadion. Doch die Emotionen, die hier heute herrschen, sind anderer Art. Manche haben angesichts der Woge öffentlicher Trauer bereits von Massenhysterie gesprochen und gefragt, ob Distanz, Geschmack und Maß dabei nicht verloren gingen. Doch hier im Stadion ist gerade das Gegenteil von Hysterie zu spüren: Es herrscht gefasste Emotion. Eine ruhige, ehrliche Trauer, in der Menschen einander nahe sind. "Der Tod trennt – der Tod vereint" steht auf einem selbst gemalten Plakat.

Als Enkes Mitspieler Michael Ballack und Per Mertesacker den Kranz der Nationalmannschaft am Sarg niederlegen, erhebt sich die Masse wie ein Mann, ein kurzer Applaus – dann herrscht Stille. Eine lange Stille, die wie eine Verneigung ist. "Die Stille ist tief wie die Ewigkeit", schrieb im 19. Jahrhundert der schottische Philosoph Thomas Carlyle. Man kann in diesem Moment ein Baby weinen hören, das etwa 100 Meter entfernt ist. Das ist vielleicht das Beeindruckendste in der Nordkurve: Dass diese Masse Mensch an einem Ort, an dem sonst Lautstärke zählt, auf so erhabene Weise schweigen kann. Dass alle ein Gespür dafür haben, was hier und heute angemessen ist. Der Tod Enkes zeigt, dass es sehr wohl eine Trauerkultur in unserem Land gibt, ebenso wie einen Sinn für Mitgefühl und Gemeinschaftssinn.

Kaum jemand spricht ein Wort, als ein Quartett der Musikhochschule Hannover zarte Streicherklänge intoniert. Da ist kein Krakeeler, der die Ruhe stört. Handys sind abgeschaltet, eine Frau unterdrückt räuspernd ihren Hustenreiz. Schweigend umarmen sich Familien, als die 17-jährige Alina Schmidt das Vereinslied „Alte Liebe“ anstimmt, das Zusammenhalt gerade angesichts von größter Not beschwört. Als hätten alle auf der Tribüne die gleiche Vorstellung davon, was in diesem Moment zu tun ist, stehen sie auf, recken ihre 96-Schals in die Luft – und schweigen erneut. In diesen Minuten werden viele Tränen mit den Schals abgewischt.

Während der Trauerreden gibt es verhaltenen Applaus. Doch nie verliert die Menschenmenge jenes Gespür für Form und Ritual, das helfen kann, Trauer zu verarbeiten. Flüsternd sprechen viele in der Nordkurve das Vaterunser mit, und als Enkes Mannschaftskollegen von Hannover 96 den Sarg hinaustragen, blicken viele in den Himmel hinauf. Man hat Stadien als die Kathedralen unserer Zeit bezeichnet – selten traf das so zu wie an diesem Tag.

Am Ende flimmern Bilder aus Enkes Leben über die Leinwand. Seine Glanzparaden, sein Familienleben. Applaus gibt es immer, wenn der private Enke zu sehen ist. Als wollte die Masse zeigen, dass es einen Unterschied zwischen dem Torwart Enke und dem Menschen Enke gibt. Weil man einen Torwart ersetzen kann.

 

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