Klare Vorzeichen
"Das war ja das erste Mal, dass du ein richtiges Riesenspiel hattest – gegen eine echte Topmannschaft aus der 1. Liga, auch international eine Topadresse." Die Vorzeichen waren also eindeutig: "Es war klar: Die sind besser als wir, ohne Frage. Aber durch die Spiele vorher hatte man schon so ein bisschen das Gefühl, man kann schon vieles erreichen. Deswegen war die Hoffnung natürlich da, dass wir zumindest mal eine Chance haben würden."
Wie sehr das Wohl und Weh von Hannover 96 an diesem Abend von ihm selbst abhängen würde, konnte Sievers vorher wohl nicht einmal ahnen. Die 90 Minuten gegen die Starriege aus Bremen um Marco Bode, Thomas Schaaf und Wynton Rufer verliefen weitestgehend unspektakulär. "Wir haben gespielt wie immer, haben hinten versucht, sicher zu stehen, relativ tief", erinnert sich der heute 55-Jährige noch genau. "Alles, was hoch reinkam, hat ja Roman Wojcicki weggeholt." Und für alles Weitere stand ja noch ein starker Schlussmann zwischen den Pfosten – der die Ruhe ganz offensichtlich weghatte, wie eine Begebenheit in der Pause vor der Verlängerung beweist.
Kurioses Interview
"Da stand ich an der Bande, und dann kam Gerhard Delling mit seinem Team und fragte ganz vorsichtig, ob er mich sprechen darf. Und ich so: 'Ja, warum denn nicht?'." Sievers lacht, während er das erzählt. "Ich habe mir überhaupt nichts dabei gedacht. Wenn ich das heute sehe, denke ich: 'Um Gottes Willen, was war denn das für eine Aktion?' In der Pause von diesem Wahnsinnsspiel gibst du noch mal kurz ein Interview. Aber für mich war das in dem Moment nichts Wildes – ich hatte ja gerade eh nichts zu tun."
Torreiches Elfmeterschießen
In der Verlängerung ging 96 nach fünf gespielten Minuten durch Michael Koch in Führung, die Sensation war zum Greifen nah. Doch dann der Dämpfer: Nur zwei Minuten später markierte Rune Bratseth den Ausgleich für die Elf von Trainer Otto Rehhagel. So musste die Entscheidung im Elfmeterschießen herbeigeführt werden – und da ging es vergleichsweise torreich zu: Von den ersten fünf Schüssen beider Teams landeten jeweils vier im Netz. Der Versuch von 96-Kapitän Karsten Surmann wurde gehalten, Bremens Bratseth zielte – anders als in der Verlängerung – daneben. Es ging im Sudden Death weiter, auch Michael Schjönberg auf Hannoveraner und Thomas Wolter auf Werderaner Seite verwandelten.
Ungewöhnliche Idee
Und dann hatte 96-Trainer Lorkowski plötzlich eine Idee und lief zu seinem Torwart. "Auch das ist heutzutage ja völlig undenkbar. Das muss man sich mal vorstellen, dass bei einem DFB-Pokal-Halbfinale während des Elfmeterschießens plötzlich ein Trainer quer über den Platz zum Sechzehner rennt." Sievers erinnert sich noch genau an die Situation: "Ich war schon so ein bisschen angepisst, weil ich häufig in der richtigen Ecke war, aber nicht an den Ball gekommen bin. Dann guckst du so auf den Boden und wartest, dass der nächste zum Schießen kommt, guckst hoch und siehst 20 Meter vor dir, wie 'Lorko' mit seinen kurzen Beinen im Vollsprint auf dich zuläuft. Da denkst du natürlich in dem Moment nicht: 'Oh super, der Trainer kommt', sondern eher: 'Was will der denn jetzt von mir? Ich weiß auch, dass ich langsam mal einen halten muss.'" Der Trainer kam aber mit ganz anderen Absichten: "Er steht vor mir und sagt: 'Den nächsten schießt du.' Da denkst du ja nicht großartig nach, sondern antwortest erstmal: 'Joa, kann ich machen.' Und bis zu dem Zeitpunkt war auch alles okay.“
Andere Perspektive
Dann aber kam sie ganz plötzlich: die etwas andere sprichwörtliche Angst des Tormannes vorm Elfmeter. Sievers, der zuletzt "in der Jugend irgendwann mal" selbst vom Punkt aus geschossen hatte, legte sich den Ball zurecht. "Da war auch alles noch okay. Dann habe ich hochgeguckt – und habe nur gedacht: 'Ach du Scheiße, ist das Tor klein.' Und in dem Moment geht es los. Dann fällt dir ein: 'Moment, hier sind ja 50.000 Leute, die zugucken.' Dann machst du noch zwei Schritte zurück und denkst: 'Ach ja, und da sind ja auch ein paar Millionen am Fernseher. Und wenn ich jetzt das Ding hier verschieße ...' Das sind die Sachen, die dir durch den Kopf gehen, einfach, weil du die Situation nicht erwartet hast und aus der Perspektive ja auch nicht kennst."
Riesiger Anlauf
Mit all diesen Gedanken im Gepäck machte der Mann mit der Nummer 1 auf dem Rücken mehr und mehr Schritte nach hinten. Auffällig: Die Kamera der ARD-Liveübertragung musste bei Sievers – anders als bei den vorherigen Schützen – immer weiter herauszoomen. "Dann habe ich mich irgendwann entschieden: 'Okay, ich haue jetzt einfach drauf, auf die Mitte.'" Mit rund zehn Metern Anlauf sprintete der Torwart los. Schuss – und: "In dem Moment, als der Ball dann im Netz zappelte, da fällt so unfassbar viel Druck von dir ab. Wahnsinn! Das ist wie, als wenn du plötzlich auf einer Wolke bist."
Noch war aber nichts gewonnen, denn Bremen hatte ja noch den Nachschuss. "Da war ich so voller Euphorie in dem Moment. Als ich mich ins Tor gestellt und gesehen habe, dass Marco Bode kommt - und dann wusste ich: 'Den halte ich jetzt.'" Und genauso sollte es geschehen: Sievers mit einem Sprung nach links parierte Bodes wenig platzierten Versuch – und wurde so zum Helden im Niedersachsenstadion.
Durchdachter Jubel
Danach gab es kein Halten mehr: Mitspieler, Trainer, Ordner, Fans – sie alle liefen zum Schlussmann mit dem goldenen Händchen, der soeben das Ticket nach Berlin gebucht hatte. Und an wen dachte Sievers in diesem Moment? An Torwartkollege Uwe Kamps, der tags zuvor sein Team Borussia Mönchengladbach mit vier gehaltenen Elfmetern quasi im Alleingang ins Finale gebracht hatte. "Das hatte ich im Fernsehen gesehen. Danach sind alle zu dem hin und auf den drauf – er lag ganz unten. Ich glaube, auf dem lagen 20 Leute. Ich habe da wirklich vorm Fernseher gesessen und gedacht: 'Alter Schwede, das gibt's doch nicht, so viele Leute, der kriegt doch gar keine Luft mehr!' Da habe ich mir so gedacht: 'Sollte das morgen – ganz eventuell – mir passieren, dann musst du stehen bleiben.'" Lachend fügt er an: "Und ich bin stehen geblieben."
hec
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