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Heute wird Rolf Gehrcke 85 Jahre alt. Am 23. Mai 1954 schrieb er mit Hannover 96 eine Wunder-(bare) Fußballgeschichte.

/ Fans, Klub

Aktuelle Autogrammwünsche
Vergangene Woche hat Rolf Gehrcke wieder einmal besondere Post bekommen. Wenn er sie aus dem Briefkasten holt und kurz auf den Absender schaut - diesmal waren es drei Briefe aus der Nähe von Mönchengladbach - dann muss er nach all den Jahren immer noch lächeln, denn Gehrcke weiß natürlich, was die Briefeschreiber von ihm wollen: ein Autogramm. Und gern ein paar Worte über jenen großen Tag, der mittlerweile 63 Jahre zurückliegt, aber Menschen interessiert und bewegt, die damals nicht einmal geboren waren.

Sonst würden sie dem Mann, der am heutigen Mittwoch 85 Jahre alt wird, nicht schreiben und ihn um ein Autogramm bitten.

Das Wunder aus Hannover
Der 23. Mai 1954: Das ist Gehrckes besonderer Tag. Wenn Menschen ihn darauf ansprechen - und das tun sie seit 63 Jahren - dann "habe ich noch heute alles vor Augen". Der 23. Mai 1954 ist ein besonderer Tag für Gehrcke und ein historischer Tag für Hannover 96, ein magisches Datum für den ganzen Klub. In der heutigen Zeit schreien die Fernsehreporter das Wort "Wunder" ja fast inflationär in die Mikrofone. Das ist bedauerlich, aber andererseits macht es die wahren Fußballwunder größer. Ein Wunder, wie es Hannover 96 und Gehrcke am 23. Mai 1954 erlebt haben. Das Wunder aus Hannover.

Sieg als krasser Außenseiter
"Das war schon gewaltig damals", sagt Gehrcke heute. Jüngeren muss man vielleicht mit einem Vergleich erklären, wie gewaltig dieser 5:1-Sieg im Hamburger Volksparkstadion über den 1. FC Kaiserslautern war, mit dem Hannover 96 zum zweiten und bislang letzten Mal Deutscher Meister wurde. Vergleiche hinken, aber ein 5:1-Sieg von 96 gegen Bayern München im DFB-Pokalfinale wäre heute eine ähnliche Überraschung.

Der 1. FC Kaiserslautern war das Bayern München des Jahres 1954. Fünf Nationalspieler gehörten zum Pfälzer Team, unter anderem der große Fritz Walter. Diese Spieler sollten wenige Wochen später den Kern der Mannschaft bilden, die Deutschland in Bern zum ersten Mal zum Fußball-Weltmeister machen würde. Aber das konnte damals natürlich noch niemand ahnen. 96 war gegen Kaiserslautern der große Außenseiter, für 80.000 Zuschauer in Hamburg war klar, wer der 43. Deutsche Fußballmeister werden würde. Sie alle sollten sich täuschen.


Der Jüngste im Meisterteam
Rolf Gehrcke war damals mit 21 Jahren der jüngste Spieler der 96-Meistermannschaft. Man sieht das sofort auf dem berühmt gewordenen Mannschaftsbild mit der Schale und den Blumen. Gehrcke strahlt jene jugendliche Unbekümmertheit aus, die er vorher auf dem Rasen gezeigt hatte als linker Außenläufer. Eigentlich sollte Willi Hundertmark diese Position bekleiden, doch dieser hatte sich verletzt. Der damalige 96-Trainer Helmut "Fiffi" Kronsbein entschied sich für Gehrcke, der trotz eines gerissenen Knorpels im Brustbein, den er sich bei einem Zweikampf zugezogen hatte, das ganze Spiel tapfer durchhielt. Zur Legende gehört heute die Geschichte, dass Gehrcke nach dem Triumph ins Krankenhaus musste und sich auf eigenes Risiko selbst entließ, um den Empfang in Hannover nicht zu verpassen. "Dieser Empfang war überwältigend", sagt Gehrcke. Der Bahnhofsvorplatz war voller Menschen, mehr als 200.000 Männer, Frauen, Jugendliche waren im Hannover der Nachkriegszeit auf den Beinen und wollten die Helden der Stadt sehen.


Studium statt Nationalelf
Als es darum ging, nach der Weltmeisterschaft 1954 eine neue Nationalmannschaft aufzubauen, war Gehrcke zu Lehrgängen eingeladen. Dreimal in der Woche hätte er nach Frankfurt reisen müssen, „das war damals eine kleine Weltreise“. Und ihm war klar, dass er erst sein Architekturstudium beenden wollte. Genau das teilte der junge Gehrcke dem damaligen Bundestrainer Sepp Herberger mit. Manchmal im Leben gibt es diese Momente, an denen man an einer Weggabelung steht und sich für eine Richtung entscheiden muss. Gehrcke entschied sich für das Studium und gegen die Nationalelfchance. Fünf Jahre später, als Vertreter von Bayern München und dem Hamburger SV bei ihm saßen, weil sie einen Außenläufer suchten, entschied sich Gehrcke für 96 und beendete dann 1960 überraschend seine Fußballlaufbahn.

71 Jahre Mitglied
Es war der Anfang einer erfolgreichen Architekturkarriere. "Es gibt heute fast kein Klubhaus in der Region, das ich nicht geplant habe", sagt Gehrcke voller Stolz. Auch beim 96-Klubheim an der Clausewitzstraße war er beteiligt, zunächst als Sieger eines Architektenwettbewerbs für das Projekt, später als Bauleiter. Gehrcke blieb 96 treu, auch als Mitglied im Verwaltungsrat und Ehrenrat. "Ich bin heute das dienstälteste Mitglied bei 96", sagt er. 71 Jahre ist er jetzt Mitglied, noch immer schaut er jedes Heimspiel. "Ich hatte diese Saison anfangs Bedenken, aber ich bin sehr angetan, wie die Mannschaft spielt. Wenn ich den Pass zu unserem Tor in Leipzig sehe oder die Treffer gegen Dortmund, dann bin ich begeistert auch von der spielerischen Klasse."

Lob für das aktuelle 96-Team

Der Meisterspieler von 1954 sieht Parallelen zu früher. "Bei uns war die Kameradschaft das A und O. Auch die heutigen Spieler vermitteln den Eindruck, dass es zwischen ihnen stimmt", sagt er. Mit großer Sorge betrachtet er dagegen die Unruhe im Verein. "Martin Kind hat Hannover 96 damals aus dem Dreck gezogen. Für mich ist er der Retter des Vereins", sagt Gehrcke. "Den meisten Kritikern geht es doch nicht um 96, sie sollen doch mal konkret sagen, wie sie sich die Zukunft vorstellen, statt immer alles negativ zu sehen. Doch da kommt nichts."

Der Autogrammkartentrick
Gehrcke steht wie kein anderer bei Hannover 96 für Tradition. Aber er hat keine Angst vor der Zukunft und auch nicht davor, dass diese Tradition bei 96 verloren gehen könnte, egal, wie viel Einfluss der Verein künftig auf den Profifußball hat. Auch im Breitensport sei 96 erstklassig aufgestellt, Gehrcke hat daran seinen Anteil. Um gute Ideen verlegen ist er übrigens auch mit 85 nicht, womit sich der Kreis der Geburtstagsgeschichte schließt. "Ich habe ja keine Autogrammkarten wie die Profis heute." Also hat sich Gehrcke einen Kopierer gekauft, in dem er alte Originalbilder wie zum Beispiel die Meisterschaftsaufnahme von 1954 vervielfältigt, mit einem Autogramm versieht und dann verschickt.

In der Nähe von Mönchengladbach werden drei Fußballfans demnächst Post vom Meister von 1954 aus Hannover bekommen.
hr

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