NIEMALSALLEIN

Sportliche Krisen gehören bei 96 dazu, doch die aktuelle Situation ist dramatischer als in der Vergangenheit

 

Hannover. Man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, was viele, viele Menschen in Hannover gestern Morgen gemacht haben, zumindest diejenigen, die sich für Fußball interessieren und für den Verein, der es locker schafft, den Schnee, das Streusalz und die gelbe Plakette als Topthemen der Stadt abzulösen. Wobei Schnee, Streusalz, Plakette und Hannover 96 ja thematisch eng beieinanderliegen und eine Gemeinsamkeit haben: Viele ärgern sich über sie. Dazu später mehr. Es ging darum, was die Leute am Montagmorgen in Hannover gemacht haben, und jede Wette: Sie haben in den Zeitungen die Überschriften zur 0:3-Pleite von 96 gegen Hertha BSC überflogen sowie die Spielberichte und Kommentare in der Muss-ich-noch-lesen-Liste hintangestellt, um möglichst schnell auf die Tabellenseite vorzudringen. Dass 96 in der Bundesliga mittlerweile auf dem 16. Platz angekommen ist, war bereits am Sonnabend durch, manch einer wird sich deshalb am Montag einen Blick auf das trostlose Tabellenbild erspart haben. Viele suchten ohnehin eine andere Tabelle. Sie haben weitergeblättert, in der HAZ auf die Seite 18, im Sportmagazin "kicker" auf die Seite 56. Dort stand in beiden Fällen die Tabelle der 2. Liga. Sie wird in Hannover seit acht Jahren bestenfalls freundlich zur Kenntnis genommen, selbst die Sportreporter der Stadt würden Probleme kriegen, wenn sie die 18 Vereine des Unterhauses unfallfrei aufzählen müssten. Jetzt aber schaut Hannover auf die Zweitligatabelle und darauf, wer dort denn möglicherweise Dritter werden könnte in dieser Saison. Für alle, die es vergessen haben: Der Drittletzte der 1. Liga und der Dritte der 2. Liga bestreiten am Saisonende zwei Relegationsspiele, der Gewinner bekommt den 18. Startplatz im Oberhaus. Die Regel hat die Deutsche Fußball-Liga nach 17 Jahren mit drei direkten Absteigern wieder eingeführt. Vergangenen Sommer kam sie erstmals wieder zur Anwendung, dass damals der Zweitligist (Nürnberg) den Erstligisten (Cottbus) besiegte, sei der Korrektheit halber erwähnt und nicht, um Angst zu verbreiten: Angst haben sie in Hannover schon genug. Abstiegsangst. Der FC Augsburg belegt derzeit den 3.?Platz – Arminia Bielefeld verspielte gestern Abend bei Hansa Rostock einen 1:0-Vorsprung in der Nachspielzeit und ist punktgleich Vierter. Aber auch Fortuna Düsseldorf, der MSV Duisburg und Union Berlin haben Rang 3 im Blick. In Hannover könnte man nun trotzig der Meinung sein, dass 96 besser ist als alle diese Klubs, aber laut darf man das nicht formulieren, ohne ausgelacht zu werden. Denn wie 96 gegen Hertha BSC gespielt hat, verliert die Mannschaft gegen jeden dieser Zweitligisten. Oder noch drastischer formuliert: In dieser Verfassung wird 96 in der 1. Liga nicht einmal Drittletzter! Das Wort Krise gehört zu Hannover 96 ja irgendwie dazu. Der Klub spielt zwar seit August 2002 ohne Unterbrechung in der 1. Liga, das Abstiegsgespenst hat in dieser Zeit immer mal wieder um die Ecke geschaut, aber sportlich so dramatisch wie jetzt war es noch nie; ein Eindruck, den ein altgedienter Spieler, der jedes Jahr 1. Liga miterlebt hat und nicht genannt werden möchte, bestätigt. 96 und die Krisen: Mal hatte der Klub einen guten Trainer (Ralf Rangnick), aber einen chaotischen Manager (Ricardo Moar). Mal harmonierten Trainer und Manager (Dieter Hecking und Christian Hochstätter), versagten aber bei der Transferpolitik. Mal stimmte es im Team, aber der Trainer (Peter Neururer) war ein Witz. Irgendein wichtiges Puzzleteil passte immer nicht ins Bild, aber trotzdem war überhaupt eines zu erkennen. Und jetzt? Kein Puzzle passt ins andere. Manche Spieler sind überfordert, überschätzt, überbezahlt, gemeinsam treten sie auf, dass die "Bild"-Zeitung beschlossen hat, das Wort "Mannschaft" nur noch in Anführungsstrichen zu schreiben. Trainer Andreas Bergmann wirkt hilflos, mit seiner eher weichen Art ist er für den Abstiegskampf und die Spieler, die 96 hat, mit großer Wahrscheinlichkeit der Falsche, aber als Sündenbock taugt er nicht. Als Sportdirektor Jörg Schmadtke beschloss, die Trainerbank von einem Zweisitzer zum Dreisitzer umzufunktionieren, hatte er Bergmanns Schicksal besiegelt, lange bevor Schmadtke mit seiner Wutrede in der Kabine nach dem 1:2 im Testspiel bei Union Berlin etwas tat, das man nicht macht, wenn man den Trainer stärken möchte. Zu glauben, dass die Konstellation mit einem starken Manager und einem vom Einfluss her schwachen Trainer gutgehen kann, ist derart naiv, dass 96 im Grunde mit dem Abstieg bestraft gehört. Aber das will niemand in Hannover, außerdem brauchen Stadt, Wirtschaft, Medien und vor allem die Menschen den Erstligisten 96. Und wenn man sich über den Klub schon ärgern muss, dann doch bitteschön in der 1. Liga. Entstanden ist eine Situation, die schwer zu lösen ist für den Mann, der feststellen muss, dass schon wieder alle schönen Pläne nicht aufzugehen scheinen. Klubchef Martin Kind ist nicht zu beneiden. 96 braucht neue, charakterfestere und bessere Spieler, hat aber kein Geld und keine sogenannte Scoutingabteilung, die gute und bezahlbare Lösungen parat hat. 96 braucht einen neuen Trainer, aber wer soll ihn aussuchen? Hat Schmadtke den Mut, jemanden zu holen, dessen erste Amtshandlung darin bestehen könnte, ihn daran zu erinnern, dass ein Manager gut auf der Tribüne sitzt? Holt man jetzt in der Not einen Feuerwehrmann und erklärt damit das Denken von Halbjahr zu Halbjahr zum Konzept? Und braucht 96 womöglich beides neu, Trainer und Manager? Das ist ein Rucksack voller Fragen, und auch bei 96 scheinen sie nicht genau zu wissen, was sie zuerst aus- und dann anpacken sollen. In der AWD-Arena trafen sich Kind und Schmadtke gestern zum nächsten Krisengespräch. Die Mannschaft, die gegen Hertha desaströse 39 Prozent der Zweikämpfe gewonnen hat, die in dieser Saison noch kein Tor nach Freistößen erzielen konnte und nur drei Treffer nach Flanken (zweitschlechtester Ligawert), hatte trainingsfrei bekommen. Bei Werder Bremen hatte es tags zuvor nach einer schlechten Leistung ein Sondertraining gegeben. Werder, das war mal das große Vorbild für 96.

"Ich hatte in der 1. Halbzeit gegen Hertha bei allen das Gefühl, dass wir nicht verstanden haben, worum es geht." Die Begriffsstutzigkeit, formuliert von Kapitän Arnold Bruggink, ist ein Problem von 96. Eines von vielen Problemen. zN (3)

 

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