NIEMALSALLEIN

Mit "Merte" im "Siegerflieger"

Das erste Interview von Per Mertesacker? 15 Jahre ist das her, und ganz gewiss hätte er einen damals für verrückt erklärt, wenn man ihm vorhergesagt hätte, dass er einmal Fußball-Weltmeister wird und am 13. Oktober 2018 mehr als 30.000 Menschen ins hannoversche Stadion kommen, um sich vom Fußballprofi Mertesacker zu verabschieden. Umso schöner, wenn solche Geschichten wahr werden. Und wenn man sie am Rande begleiten darf. Ein PERsönlicher Rückblick von 96-Kommunikationsleiter Heiko Rehberg.

/ Fans, Klub, Profis

Es begann in Österreich
Obwohl 15 Jahre gerade im Fußball eine halbe Ewigkeit sind, kann ich mich noch gut an den Anruf aus der Redaktion erinnern. "Kannst Du nicht mal eine Geschichte mit diesem Jugendspieler machen", hieß es aus Hannover. Es war das Jahr 2003, und ich war damals als Sportreporter für die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" in Österreich, um über das Trainingslager von Hannover 96 zu berichten. Die Roten hatten in Innsbruck den Alpencup gewonnen – nach Elfmeterschießen im Finale gegen Galatasaray Istanbul. Bei dem Spiel hatte "dieser Jugendspieler" Eindruck gemacht, dessen Namen der Kollege in Hannover noch nicht richtig parat hatte.

Der einzige Profi ohne Handy
Einen Tag später saß ich mit diesem Jugendspieler, der vier Wochen vorher noch für die 96-Amateure gegen LTS Bremerhaven gespielt hatte, in der Lobby eines Hotels in Kaprun, und der 18-Jährige mir gegenüber erzählte, dass er vor einem Jahr die Weltmeisterschaft in Asien am Fernsehen verfolgt habe und ihm dabei besonders der Türke Hasan Sas gefallen habe. "Plötzlich selbst sein Gegenspieler zu sein, ist ein Erlebnis", sagte Mertesacker mit der Unbekümmertheit eines jungen Kickers, der alle Eindrücke in seinem ersten Trainingslager bei den Profis aufsaugt und dabei noch ins Staunen kommt – auch über sich selbst.

Man ahnt es längst. Dieser Jugendspieler, der in der Hotellobby sein erstes größeres Interview gab, war Per Mertesacker. Sein damaliger Trainer Ralf Rangnick hatte im Spiel gegen Galatasaray seine Ruhe und Abgeklärtheit gelobt. Auf meine Feststellung, dass das für einen 18-Jährigen ohne Bundesligaspiel ja keine Selbstverständlichkeit sei, antwortete Per: "Ich habe versucht, genau das zu machen, was ich in der A-Jugend gelernt habe. So einfach ist das. Außerdem haben mir alle geholfen."

Wenn ich das Interview heute lese, die kurzen, bescheidenen, aber klaren Antworten, dann ist das eine Reise zurück in eine Zeit, in der bei 96 ein Jahr nach dem ersehnten Wiederaufstieg alle noch das euphorische Gefühl genossen, endlich wieder erstklassig zu sein. Für Mertesacker schien das alles noch irgendwie unwirklich. Eine seiner Antworten lässt mich noch heute lächeln. Per Mertesacker, der 18-Jährige, der bei Hannover 96 seine ersten vorsichtigen Schritte in der Profiwelt machte und als einziger Spieler kein Handy besaß, erzählte, dass er Fan von Schalke 04 sei und ein gewisser Ingo Anderbrügge damals sein Vorbild war. "Einmal in Gelsenkirchen in der Arena  spielen, das wäre ein Traum. Da war ich noch nie", sagte Mertesacker. Auch dieser Traum sollte für ihn in Erfüllung gehen, mehrmals.

Das erste Spiel mit Per
Mertesacker wurde in den vergangenen Tagen oft auf sein erstes Bundesligaspiel im November 2003 angesprochen, ich glaube, er kann die Geschichte nicht mehr hören. Auswärtsspiel in Köln, Rechtsverteidiger, eine Position, als würde man einem Maler sagen, er müsse heute ausnahmsweise mal als Tischler arbeiten. Nach 45 Minuten war Mertesackers erstes Bundesligaspiel beendet. Mir ist dieses Spiel nicht mehr in Erinnerung. Dafür ein anderes, sozusagen mein erstes Spiel mit Per.  

Die A-Jugend von Hannover 96 hatte sich im Sommer 2003 für das Viertelfinale der deutschen Meisterschaft qualifiziert. Das Rückspiel gegen 1860 München fand auf der Anlage von Werder Hannover statt. Ich bin damals hingefahren, um zu schauen, ob einer der A-Jugendspieler vielleicht das Zeug hätte, es in den Profikader zu schaffen. Mein Urteil damals: Da ist keiner dabei, erst recht nicht dieser lange Lulatsch, von dem mir vor dem Spiel erzählte wurde, dass er in der Jugend eine tolle Saison gespielt habe. Gegentor verschuldet, Elfmeter verschossen, nee, einer für die zweite Mannschaft. Wenn er Glück hat. Dieser lange Lulatsch namens Mertesacker sollte später 104 Länderspiele für Deutschland machen, eines mehr als "Kaiser" Franz Beckenbauer.  

Das Interview in Kaprun sollte nicht das letzte mit Mertesacker bleiben. Unter Ewald Lienen ("Ich lasse den Langen spielen") wurde Mertesacker zum Stammspieler bei Hannover 96. Im Oktober 2004 spielte er erstmals für die deutsche Nationalmannschaft. Bei seinem ersten Länderspieltor im Konföderationpokal gegen Australien im Jahr 2005 saß ich in Frankfurt auf der Tribüne und hatte danach eine kurze Nacht. Der Chefredakteur wollte für die nächste Ausgabe alles über diesen Mertesacker in der Zeitung haben.  

Von wegen kein Talent
Bei drei Weltmeisterschaften und zwei Europameisterschaften habe ich Mertesacker begleitet, und auch, als er längst kein 96-Spieler mehr war, blieb er für mich - auch wenn das vielleicht etwas merkwürdig klingt - immer ein Stück Heimat bei der Nationalmannschaft. Das lag auch an seinem Vater Stefan, der mit seiner Frau bei allen großen Turnieren dabei war und der noch heute im 96-Vorstand sitzt. Ich erinnere mich noch genau an die Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine, das einzige Turnier, bei dem Per keine große Rolle spielte. Nach einem Spiel in Lwiw herrschte auf dem Flughafen der ukrainischen Stadt das Chaos. Flugzeuge standen auf dem Rollfeld und durften nicht starten, in den wenigen Restaurants im Gebäude drängelten sich die Fans. Einer davon Stefan Mertesacker. Er begrüßte mich freundlich, genau wie ich erfreut, in fremder Umgebung unerwartet ein vertrautes Gesicht zu entdecken. Wir schimpften über die Verspätungen, und Stefan Mertesacker sagte: "Nur Per und die Jungs haben wieder eine Sonderbehandlung bekommen." Und lachte. Ich glaube,von diesem Humor, von dieser Bodenständigkeit, von diesem sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, hat Per viel geerbt.  

Zusammen mit Raphael Honigstein hat Per Mertesacker eine lesenswerte Autobiographie geschrieben mit vielen schönen Anekdoten aus dem Harz, aus Pattensen, aus London, aus Rio. Der Titel lautet "Weltmeister ohne Talent". Es ist ein schöner Titel. Aber er stimmt nicht. Ja, andere Spieler hatten mehr Talent, auch Björn Lindemann und Nils Pfingsten, die damals mit Per in Kaprun beim 96-Trainingslager Profiluft schnuppern durften. Man kann sich viele Spiele von Mertesacker anschauen und wird entdecken, welche Klasse er hatte, ich empfehle das großartige 4:0 der deutschen Nationalmannschaft in Kapstadt gegen Argentinien. Bei der WM 2010 in Südafrika bildete Mertesacker mit Arne Friedrich die Innenverteidigung. Wie Mertesacker in diesem Turnier vorausahnte, wo die Bälle der Gegner hinkommen würden, wie er im Zweikampf fast immer richtig stand, wie er sich nicht aus der Ruhe bringen ließ - besser kann ein Innenverteidiger nicht spielen. Von wegen kein Talent.

Große Geste eines großen Fußballers
Die letzte Nationalmannschaftserinnerung an Mertesacker stammt aus dem "Siegerflieger" von Rio de Janeiro im Sommer 2014. Irgendwann mitten in der Nacht stand er zusammen mit Lukas Podolski im hinteren Teil des Flugzeugs, in dem wir Journalisten saßen. Und hatte den WM-Pokal dabei. Es war die große Geste eines großen Fußballers.

Wenn Per Mertesacker am Samstag in der HDI Arena seine letzte Ehrenrunde gedreht hat, dann werden in seinem Kopf ganz sicher viele Bilder ablaufen. Bilder einer wunderbaren Karriere. In seinem ersten großen Interview 2003 hatte ich ihm damals folgende Schlussfrage gestellt: "Ist es schon ein Ziel, kommende Saison in der Bundesliga zum Einsatz zu kommen?" Per Mertesacker antwortete: "Nein, das wäre zu früh."
hr

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