"Sowas vergisst man nicht"
9. Juni, 1973, Wuppertal. Hannover 96 rettete sich durch ein 4:0 beim Wuppertaler SV spektakulär vor dem Abstieg aus der Bundesliga und schickte stattdessen Eintracht Braunschweig in die Zweitklassigkeit. "Ich habe zu Hause eine DVD von dem Spiel und schaue es mir regelmäßig an", sagt der damalige Kapitän und zentrale Mittelfeldspieler Hans Siemensmeyer - bis heute Bundesliga-Rekordtorschütze unserer Roten und zum 125-jährigen 96-Jubiläum von den Fans in die Legendenelf gewählt. "Der blonde Hans", wie der heute 82-jährige damals liebevoll von den 96-Anhängern genannt wurde, kann sich beeindruckend detailliert an das "Wunder von Wuppertal" erinnern. "Was wir da alles erlebt haben, sowas vergisst man nicht", sagt Siemensmeyer und meint damit nicht nur die 90 Minuten Fußball im Stadion am Zoo gegen den Wuppertaler SV, sondern inkludiert Vor- und Nachbereitung der Partie, mit der der besiegelt geglaubte 96-Abstieg in letzter Sekunde doch noch abgewendet werden konnte.
Der Anfang vom Wunder
Die Zeitreise ins "Wunder von Wuppertal" beginnt bereits am 32. Spieltag der Saison 1972/73 mit dem Derby beim BTSV, das mit 2:3 verloren ging. Damit verschaffte sich der Rivale aus der Nachbarschaft ein – in Zeiten der Zwei-Punkte-Regel durchaus stabiles – Drei-Punkte-Polster auf die Abstiegsränge. 96 blieb mit wenig Hoffnung auf Tabellenplatz 17 zurück - es stiegen zwei Teams aus der Bundesliga in die damals zweitklassige Regionalliga ab. Der darauffolgende 33. Spieltag ist mit einem 2:0-Sieg unserer Roten gegen Hertha BSC und einer 0:3-Auswärtsniederlage Braunschweigs schnell erzählt, sodass die 96-Ausgangslage mit einem Zähler Rückstand vor dem finalen Spieltag schon einmal um ein Vielfaches hoffnungsvoller war. Am Ende benötigte das Team um den damaligen Coach Hannes Baldauf bei eigenem Sieg dennoch Schützenhilfe von der Fortuna aus Düsseldorf, die in der Löwenstadt antreten musste.
"Auf dem Platz zerrissen"
Vor dem entscheidenden Spiel in Wuppertal hatte Präsident Ferdinand Bock jedem Spieler einen Vertrag für die Regionalliga vorgelegt. "An dem Tag vorher hatten wir, bis auf eine Ausnahme, unsere Zweitligaverträge unterschrieben", erinnert sich Siemensmeyer. Am Spieltag selber nahm der Kapitän sich dann ohne Beisein des Cheftrainers nochmal die Mannschaft zur Brust: "Ich habe der Mannschaft gesagt: 'Wir sind alle Spieler von Hannover 96, wir spielen nicht nur für uns, sondern auch für den Verein.'" Und wie. Der WSV wurde eindrucksvoll mit 4:0 aus den hauseigenen Wänden geschossen, nach dem 1:0 durch Rainer Stiller traf Siemensmeyer selbst per direktem Freistoß zum 2:0. "Da muss ich mich selbst mal loben, wie ich den gemacht habe", schmunzelt er. Zwei Tore von Willi Reimann stellten den Endstand her. Der Mittelstürmer war der einzige 96er, der am Vortag keinen Zweitligavertrag unterzeichnet hatte. Mit ihm hatte Siemensmeyer vor dem Spiel noch einmal unter vier Augen gesprochen: "Ich verstehe, habe ich gesagt, wenn Du nicht unterschreiben willst, Du bist zu gut für die 2. Liga. Aber heute musst Du Dich für 96 noch einmal richtig zerreißen." Die Ansprache des erfahrenen Kapitäns an den damals 23-jährigen Torjäger war von Erfolg gekrönt: "Der Willi Reimann hat ein unglaubliches Spiel gemacht und sensationell Fußball gespielt – er war an allen vier Toren beteiligt."
Im Parallelspiel verlor der BTSV 1:2 gegen Düsseldorf. So hatte Hannover 96 am Ende alle Puzzleteile für diese romantisch-historische 96-Geschichte vom "Wunder von Wuppertal" zusammen, mit dem Endresultat auch die Saison 1973/74 in der Bundesliga zu bestreiten. Für Siemensmeyer hatte der Zusammenhalt innerhalb der Mannschaft einen entscheidenden Beitrag zum "Wunder"-Spieltag geleistet: "Wir waren eine verschworene Gemeinschaft. Eigentlich fehlten am letzten Spieltag einige Stammspieler, aber die Elf, die auf dem Platz stand, hat sich auf dem Platz zerrissen."
Zweitligaverträge gegrillt
Nach diesem großartigen und unerwarteten Erfolg hatten die Verantwortlichen um Präsident Bock im Hotel zu einer Feier geladen. Auch hier waren dann wieder die Regionalliga-Verträge im Einsatz. "Wir haben gegrillt und unsere Zweitligaverträge in den Grill geschmissen", räumt Siemensmeyer mit einem Lächeln ein. Der langjährige Denker und Lenker im Spiel von Hannover 96 blickt auf 278 Bundesligaspiele und 72 Tore im roten Trikot zurück. "Das Spiel kommt für mich persönlich an zweiter Stelle, nach meinem Länderspieldebüt gegen Frankreich", verrät der dreifache Nationalspieler Siemensmeyer stolz - im Umkehrschluss also sein bedeutsamstes Spiel auf Vereinsebene. Und bis heute für uns alle: Das "Wunder von Wuppertal".
cvm