Ein Stollen als Anfang
"Das ist jetzt schon über 40 Jahre her", sagt Annemarie Streit. Angefangen habe ihr ehrenamtliches Engagement für obdachlose Menschen ausgerechnet mit einem Stollen aus der Weihnachtszeit. "Das ist der reinste Hohn, denn ich mag gar keine Stollen." Wegwerfen kam für sie nicht infrage, also nahm sie den Stollen mit in die Stadt und kam ins Gespräch mit einem obdachlosen Mann. Aus diesem einen Gespräch wurden viele und aus der kleinen Geste eine Lebensaufgabe, die sie über eine sehr lange Zeit zusammen mit ihrem Bruder verwirklichte, bis er verstarb.
Ging es für die 98-Jährige in die Stadt, so hatte sie immer etwas bei sich um zu helfen: "T-Shirt, Strümpfe, Tempotaschentücher, Sicherheitsnadel, ein bisschen Verbandzeug und auch Essens- und Kaffeemarken – es sind die Kleinigkeiten, die oft gebraucht werden." Im Laufe der Zeit habe Streit festgestellt, dass das Allerwichtigste sei "mit den Leuten zu reden" und das auf Augenhöhe: "Ich frage die Menschen auf der Straße nie aus. Das steht mir gar nicht zu – ich sieze sie auch. Für mich ist Respekt das oberste Gebot."
Vom Vogelkäfig bis zum Smoking
Während Annemarie Streit in den Gesprächen versucht hat, herauszufinden, wie sie jedem einzelnen helfen kann, gab es über die Jahre hinweg auch ungewöhnliche Wünsche, die sie durch ihre Freude am Organisieren dennoch erfüllen konnte. "Da war zum Beispiel einer, der wollte gerne mal einen Vogelkäfig haben, ein anderer wollte einen Smoking – habe ich beides besorgen können", erzählt sie mit einem Lachen.
Für ihr jahrzehntelanges Engagement wurde Annemarie Streit mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Niedersachsenpreis für Bürgerengagement und dem Verdienstkreuz am Bande. Auch wenn sie sich durch die Auszeichnungen geehrt fühlt, öffentlich zur Schau stellen möchte sie das nicht. "Das liegt im Bücherschrank. Das bammle ich mir doch nicht um."
Der Mecki-Laden
Auch im Kontaktladen "Mecki" sucht Annemarie Streit nicht die große Aufmerksamkeit. Im Tagestreffpunkt des Diakonischen Werkes Hannover, der Anlauf- und Beratungsstelle für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten ist, sitzt sie oftmals ganz unauffällig hinten in der Ecke, nachdem sie regelmäßig Spenden vorbeibringt. "Wir können nicht die ganze Welt retten, aber hier leiden wir in Not? Das kommt nicht in Frage", macht sie deutlich. Im Mecki-Laden kommen auch ihre Strickarbeiten an.
"Ich habe immer ganz viel Handarbeit gemacht und viele Strümpfe gestrickt." Durch ihr stolzes Alter sei sie aufgrund der mittlerweile fehlenden Fingerfertigkeit auf Stulpen umgestiegen. Pro Stulpe braucht sie in etwa einen Abend. Für das von Hannover 96 organisierte Social Winterfest habe sie 60 Stück mitgebracht und "für den Mecki-Laden habe ich auch schon 50 gemacht, aber die liegen noch zu Hause rum." Besonders am Herzen lag ihr bei der Veranstaltung im Außenbereich der Heinz von Heiden Arena, dass nur die Menschen ihre gestrickten Stulpen erhalten, die sie auch tatsächlich benötigen.
Aber sie spürt durchaus, was der Verein vielen bedeutet. "Es ist eine Verbindung zum Ort und zu Ihresgleichen. Alle haben diese eine Leidenschaft." Deswegen sind die 96-Stulpen auch mehr als nur warme Kleidung in der kalten Jahreszeit. Sie sind ein Zeichen für Zugehörigkeit zur Stadt, zum Verein, zur 96-Gemeinschaft.
Die kleinen Dinge
Ihr Appell: der sportliche Gedanke. Das Miteinander und zueinander stehen. Hinschauen, zuhören, helfen und daran glauben, dass selbst kleine Dinge zählen. Manchmal reicht dafür schon ein Gespräch. Manchmal ein Vogelkäfig. Und manchmal eben ein Paar Stulpen – in den Farben von Hannover 96.
jr